„Therapeutisches Gammeln“ in Pflegeheimen
„Therapeutisches Gammeln“ in Pflegeheimen

Was verbirgt sich hinter diesem provokant wirkenden Schlagwort? Soll in Pflegeheimen ab sofort nur noch gefaulenzt werden und dieses Nichtstun auch noch als „Therapie“ verkauft werden?
Der Begriff und das Konzept gehen auf den Pfleger, Sozialwissenschaftler und Journalisten Dr. Stephan Kostrzewa zurück. Dieser veröffentlichte 2023 das Fachbuch „Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz“[1]. Seitdem wird das Konzept in Fachkreisen diskutiert und in ersten Einrichtungen der stationären Altenpflege auch schon mit Erfolg angewendet.
Stephan Kostrzewa befasst sich in seinem Buch kritisch mit der aktuellen Betreuungspraxis von Menschen mit fortgeschrittener Demenz in der stationären Altenarbeit und entwirft einen radikalen Gegenentwurf zu vielen aktuellen Therapieansätzen, die vor allem auf Beschäftigung und Aktivierung von Demenzkranken setzen. Das „therapeutische Gammeln“ will dem gegenüber vor allem die Selbstbestimmung der dementen Patient:innen stärken. Hierbei stehen nicht Training und Therapie im Mittelpunkt, sondern Ansätze, die Freude, Lust und Eigenständigkeit fördern. Nicht umsonst geht das Wort „Gammeln“ im Ursprung auf das urgermanische „gemana“ zurück, was so viel bedeutet wie Lust und Freude. Im Kern geht es vor allem darum, den Alltag der Betroffenen so zu gestalten, dass sie sich wohlfühlen. Häufig bedeutet dies auch, die Demenzerkrankten nicht mit Angeboten zu überfordern, sondern auch einfach mal „in Ruhe zu lassen“. Das heißt natürlich nicht, dass diejenigen, die an Angeboten teilnehmen möchten und dabei zufrieden wirken, davon ausgeschlossen werden sollen. Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen sollen radikal in den Mittelpunkt gestellt werden. Den Betroffenen wird mit einer gewährenden, suchenden und reagierenden Haltung begegnet. Demenzerkrankte können so die Erfahrung machen, wieder Autonomie über das Versorgungsangebot zurückzuerhalten.
Das „therapeutische Gammeln“ bezieht sich auch auf den Ansatz der person-zentrierten Pflege des britischen Psychologen Tom Kitwood[2]. Dieser stellt die Einzigartigkeit der Person in den Mittelpunkt. Das oberste Ziel in der Betreuung von Menschen mit Demenz ist der Erhalt und die Stärkung des „Personseins“. Eine respektvolle Grundhaltung und positive Beziehung bilden die Basis für die tägliche Arbeit.
Im Julie-Kolb-Seniorenzentrum der Arbeiterwohlfahrt in Marl entsteht seit Mai 2023 eine erste „Gammel-Oase“. Hier wird das „Therapeutische Gammeln“ als 24-Stunden-Konzept für 14 Menschen mit fortgeschrittener Demenz angewandt, die in einem gesonderten Bereich des Pflegheims leben.
Für Pflegende stellt der Ansatz des „therapeutischen Gammelns“ eine besondere Herausforderung dar. Sie sind es meist eher gewohnt, als „Macher:innen“ und „Entscheider:innen“ zu agieren. Die gewährende Haltung, die den Bewohner:innen mit Demenz die Regie überlässt, muss entwickelt und gut begleitet werden.
[1] Kostrzewa, S. (2023). Therapeutisches Gammeln für Menschen mit Demenz, GRIN Verlag, München.
[2] Kitwood, T. (2022). Demenz: Der person–zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten, kognitiv beeinträchtigten Menschen. Hogrefe AG.